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Von 100 auf Null in drei Jahren

Wie ich als freischaffende Künstlerin mit mehreren chronischen Erkrankungen lebe oder auch irgendwie nicht


Multimorbid heißt das wohl. Das, was ich habe, also das, was ich bin. Multimorbidität bedeutet „gleichzeitiges Bestehen mehrerer Erkrankungen“.

In meinem Fall heißt das „Triplemorbid“. Das Wort habe ich mir ausgedacht, und doch habe ich drei schwere Erkrankungen, die mich seit Jahren heimsuchen – mal als Dauergast, weil es so schön gemütlich bei mir ist, mal phasenweise, mit kurzen Strecken der Erholung für mich und meinen Körper, aber immer trotzdem da.


Wie in einem alten Märchen könnte ich jetzt beginnen mit „Es war einmal…“ und die lange Liste meiner Defekte aufzählen, die mich tagtäglich eher, wie 75 statt 41 Jahre alt fühlen lässt. Viel lieber möchte ich mich aber in diesem Text nicht in Symptomaufzählungen verlieren, sondern vielmehr das Zusammenspiel der einzelnen Parameter meiner Erkrankungen erkunden. Vielleicht wie in einem Krimi: Ich will den Mörder suchen, will herausfinden, wie ich in meinem Leben an den Punkt gekommen bin, an dem ich jetzt stehe: arbeitsunfähig mit chronischen Schmerzen und einer mittelschweren Depression.


Am Anfang war der dicke Körper

Krankheit Nr. 1, die Adipositas, begleitet mich schon mein ganzes Erwachsenenleben hindurch. „Zu fett fürs Ballett“ steht auf dem Lieblingsshirt einer alten Freundin, und genauso fühle ich mich Zeit meines Lebens mit dieser Erkrankung. Zu groß fürs Leben und die engen Stühle im Straßencafé. Zu schwer, um vom Prinzen in der glänzenden Rüstung über die Schwelle getragen zu werden. Zu breit, um bequem in einem Flugzeugsitz sitzen zu können.


Zeitlebens wurde ich (viele Betroffene werden jetzt traurig zustimmen) für mein Gewicht gemobbt, diskriminiert, ausgelacht und natürlich abgewertet.

Mit dem Fahrrad unterwegs durch die Innenstadt Leipzigs wurde mir schon Dinge wie „fette Sau“ hinterhergerufen.

Ärzt:innen verschreiben mir bei Halsschmerzen erstmal eine Diät, denn natürlich ist mein Gewicht der Grund für meine Beschwerden, so abwegig die Zusammenhänge auch sein mögen. Ich wurde sogar schon öffentlich von anderen dicken Menschen diskriminiert, weil ich in ihren Augen nicht dick genug war, um als gleichwertig betrachtet zu werden. Es ist absurd.


Unter dem Deckmantel der Fürsorge wird mir von Freund:innen und Familie immer wieder sorgenvoll ins Gewissen geredet, doch bitte auf meine Gesundheit zu achten und endlich mein Gewicht zu reduzieren.

Gott sei Dank weiß ich heute, dass allein das Dicksein erstmal kein Indikator für die körperliche Gesundheit einer Person ist – aber mit dieser Ansicht stehe ich nach wie vor sehr allein auf weiter Flur, dabei hat der Deutsche Bundestag im Juli 2020, Adipositas (endlich!) als eigenständige Krankheit anerkannt.


Menschen kritisieren dicke Personen, weil sie undisziplinierte und haltlose Geschöpfe in uns sehen und ihre eigenen, gesellschaftlich konstruierten Urängste auf uns projizieren.

In dieser Leistungsgesellschaft ist der dicke Körper ein Hindernis auf dem Weg zum Erfolg, darum ist er abzuschaffen und tunlichst zu vermeiden. Er ist hässlich, natürlich absolut ungesund und eigentlich die Wurzel allen Übels, wenn wir ehrlich sind, oder?

Naja, in diese politische Debatte gehen wir vielleicht in einem anderen Text und dann gern auch etwas ausführlicher hinein.


Ich fasse also zusammen: Ich bin dick.


Morbus Basedow – die Dramaqueen unter den Schilddrüsenerkrankungen

2013 bekam ich die Diagnose für meine zweite chronische Erkrankung: Morbus Basedow.

Ein Basedow ist eine systemische Autoimmunerkrankung, die den gesamten Körper betrifft und unzählige Nebenerkrankungen mit sich bringt, z.B. Rosacea und Psoriasis, beides entzündliche Hauterkrankungen, die mittlerweile leider auch auf meiner langen Liste der Nebenerkrankungen stehen.

Symptomatisch am auffälligsten äußert sich jedoch die Schilddrüse zum Basedow, denn die Erkrankung bringt sie dazu viel zu viele Schilddrüsenhormone zu produzieren, wodurch der Körper in eine Schilddrüsenüberfunktion gerät. Symptome eine Überfunktion der Schilddrüse sind u.a. Hitzewallungen, Herz-Rhythmus-Störungen, Schwindel, Schlafprobleme, Unruhe und Angstzustände, eine übersteigerte Emotionalität und noch vieles mehr. Wird die Überfunktion nicht behandelt, kann das zu einer Schilddrüsenkrise führen, die mitunter tödlich enden kann.

Mein damaliger Arzt schrieb mir Tabletten gegen die Überfunktion auf, sagte, wenn ich Glück hätte, heilt es spontan aus und nach fünf Minuten war ich aus dem Sprechzimmer entlassen.


Im Jahr 2020, acht Jahre später, befinde ich mich in meinem vierten Morbus Basedow-Schub und habe neben Kurzatmigkeit, Herzstolpern und anhaltender Übelkeit auch mit chronischen Gelenkentzündungen in den Knien zu tun, die vom Medikament gegen die Schilddrüsenüberfunktion kommen.

Das hatte der Arzt offensichtlich vergessen mir mitzuteilen. Und auch das Morbus Basedow nicht heilbar ist und ich vermutlich zeitlebens mit mehr oder weniger schweren Symptomen leben muss, gegen die kein Kraut gewachsen ist, hat er unter den Tisch fallen lassen.

Ich sitze also in der Bibliothek und lese Bücher über meine Erkrankung, quäle mich mit Unwohlsein, Herzrhythmusstörungen und Gelenksteifheit durch meinen Alltag. Ich will mir eine Selbsthilfegruppe suchen, finde aber keine in der Region.

Inzwischen muss ich immer wieder einzelne Schreib-Kurse und Konzerttermine absagen, weil ich zu krank zum Arbeiten bin. Worst-Case-Szenario für eine selbstständig arbeitende Person… So weit, so beschissen.


Nach einem jahrelangen Ärzt:innen-Hopping, welches lustiger klingt, als es tatsächlich war, lande ich bei einer Ärztin, die zumindest mich und meine Beschwerden ernst nimmt und endlich eine finale Therapie einleitet.

Ich gehe im Januar 2021 ins Krankenhaus, schlucke eine radioaktive Pille und muss eine Woche auf der Quarantänestation in einem bleiverkleideten Zimmer ausharren, bis das radioaktive Jod der Pille, sich todbringend an die Zellen meiner Schilddrüse geheftet hat. Ich strahle und meine Ausscheidungen werden in einem getrennten Abwassersystem abtransportiert und vermutlich irgendwo endgelagert.


Anderthalb Jahre später ist meine Schilddrüsenüberfunktion zu einer Unterfunktion geworden, damit ist das Ziel der Radio-Jod-Therapie erreicht.

Meine Medikation gegen die (nunmehr) Unterfunktion der Schilddrüse ist aktuell, nach eineinhalb Jahren, noch immer nicht richtig eingestellt und der altbekannte Basedow hockt beleidigt im Hintergrund und wartet auf die nächste Gelegenheit, mir das Leben noch ein bisschen schwerer zu machen. Warum auch nicht, ist ja schließlich sein Job, als chronische Erkrankung.



Coroni, der alte Haudegen

All dies passiert, während die Welt im Lockdown wie paralysiert auf ihre Smartphones starrt, die Online-Kaufhäuser leer kauft und begeistert Bananenbrot backt.

Alle meine Konzerttermine sind gecancelt, eine ganze Tour abgesagt. Die harte Arbeit der letzten Jahre rinnt mir durch die Finger, aber irgendwie bekomme ich das nur halb mit, ich bin zu beschäftigt mit Schmerzen haben und krank sein.

Ich denke: „Immerhin, wenigstens passt das Timing. Gut, dass es mir gerade jetzt so schlecht geht, ich darf eh keine Konzerte spielen.“


Und dann, ein paar Monate später, bin ich plötzlich keine Sängerin mehr. Alle Proben sagen wir erst wegen Corona, dann wegen meiner andauernden Unpässlichkeiten ab.

Auf dem Weg zu einem der fünf Konzerte im Jahr 2020, die ich hoffnungsvoll zugesagt hatte, müssen wir panisch von der Autobahn abfahren. Ich übergebe mich erst auf einem Friedhof und dann im nahegelegenen Pfarrhaus. Meine Bandkollegen sagen der Veranstalterin zwei Stunden vor Konzertbeginn ab. Auf dem Weg zurück nach Hause heule ich die ganze Zeit.


Wer bin ich?

Wer bin ich, wenn ich nicht mehr singe? Bin ich noch Künstlerin, wenn ich keine Konzerte mehr spielen kann? Wo fängt Kreativität und Künstlertum an? Hört es jemals auf? Und wenn ja Wo? Oder Wann? Und was macht ein alles überschattendes Lebensereignis eigentlich mit meiner Fähigkeit Kunst zu erschaffen?

Ich beschäftige mich mit der Frage wie identitätsstiftend eigentlich mein Beruf ist und stelle fest: sehr.


Doomscrolling

Die Wochen und Monate verstreichen und in langen dunklen Stunden versinke ich in der Online-Welt, scrolle mich besinnungslos durch Instagram und YouTube und weiß nicht, wie ich zu dieser kranken Frau geworden bin.

Ich fühle mich isoliert, abgeschnitten. Freundschaften brechen zusammen, unter dieser Last. Ich fühle mich einsam und die Schnelligkeit und die Art und Weise, wie sich mein Leben zu 100% verändert hat, traumatisiert mich – das verstehe ich allerdings erst sehr viel später.


Ich trauere meinem alten Leben hinterher. Es war bunt, laut und wahnsinnig interessant. Ich war immer in Bewegung, bin viel gereist, habe die unmöglichsten Orte besucht, war in die unglaublichsten Geschichten verwickelt. Nie habe ich mit meinem Lebensentwurf gehadert.


Doch jetzt...

Mein Energielevel steht aktuell bei 30%.

Mein neues Leben ist nicht mal ein schmaler Schatten des Alten. Es ist ein Leben auf dem Sofa, mit Wärmflasche und Netflix. Mit angezogener Handbremse existiere ich vor mich hin, habe Schmerzen und bin sehr sehr unglücklich.


Die Besserwisser:innen

Von Ärzt:innen und auch von meinem engeren Umfeld bekomme ich währenddessen glücklicherweise andauernd die besten Tipps: Ich solle einfach mehr spazieren gehen, mich draußen aufhalten, das heilt Körper und Geist. Ob ich schonmal Meditation versucht hätte, fragt meine Hausärztin. Manchmal muss man sich auch einfach mal überwinden, tönt es aus der Familie.

Ich solle nicht so viele Schmerztabletten nehmen, das kann doch auch nicht gut sein. Eins meiner All-Time Favorites: Wenn du einfach ein bisschen abnehmen würdest, würde das auch schon vieles erleichtern. Und mein absoluter Lieblingsspruch aus dem Bullshit-Bingo der unmotivierten Motivationsversuche: Das wird schon wieder.

Ja, Regina, ich weiß, dass es wahrscheinlich schon irgendwann mal wieder besser wird, aber jetzt gerade ist es halt einfach nur beschissen!


Meine Knie sind so geschwollen, dass ich meine Beine nicht mehr anwinkeln kann. In der schlimmsten Phase ist meine größte Herausforderung der Gang zur Toilette:

Ich rolle ich mich seitlich vom Sofa herunter und drücke mich mittels Armkraft (immerhin!) in einen unsicheren Stand. Dann watschele ich wie ein Pinguin zur Toilette und wünsche mir jedes Mal (also mehrfach am Tag!) inständig einen festmontierten Griff, oder besser zwei, wie in einer dieser geräumigen Toiletten für Menschen mit Behinderung, an dem ich mich festhalten kann, damit ich mich nicht wieder aus voller Standhöhe auf die Toilettenschüssel fallen lassen muss. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie der Toilettensitz (und meine Rückseite) das so lange unbeschadet überstanden haben.

In diesen Momenten fühle ich mich sehr alt, sehr krank und sehr weit weg von der hippen Hot-Yoga-Praxis, die meine Hausärztin mir empfiehlt.

Ich denke: Wenn deine Ärzt:innen deine Symptome kleinreden und am liebsten alles in die psychosomatische Ecke schieben, weil das die einfachste und schnellste Erklärung zu sein scheint, ist wirklich etwas im Argen. Dann haben sie keine Erklärung für das, was mir gerade passiert, dann sind sie, die Experten für krankes Fleisch, am Ende mit ihrer Expertise – dieser Gedanke macht mir Angst.


Vom Herzen und vom Kopf

Trotz all meiner Beschwerden versuche ich selbstständig zu bleiben, auch beruflich. Habe ich einen guten Tag bemühe ich mich um Geld. Ich beantrage Stipendien, konzipiere Online-Schreib-Kurse und greife auf mein Erspartes zurück, bis nichts mehr davon übrig ist.

Meine Mutter sagt: Das war aber eigentlich für schlechte Zeiten gedacht. Ich muss lachen und sage: Ich finde, die Zeiten sind schlecht genug.

Ich achte nicht gut auf mich, starte eine Social-Media-Kampagne nach der anderen, um mehr Reichweite zu bekommen, create content und stresse mich mit belanglosen Instagram-Beiträgen, damit ich ein paar mehr Menschen in meine Kurse bekomme, damit ich Geld verdienen kann, damit ich nicht aus meiner Wohnung fliege, damit ich Essen kaufen kann. Und Medikamente.

Jeden Tag arbeite ich. Jeden Tag merke ich, dass es eigentlich nicht mehr geht. Soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten, fällt mir immer schwerer. Ich bin enttäuscht von so vielen Freund:innen, die die Tragweite meiner Situation nicht sehen können oder wollen. Ich verlange Verständnis und Rücksichtnahme, kann mir aber selbst beides nicht gewähren. Das Herz versteht viel früher, was der Kopf nicht begreifen will.

Nach zweieinhalb Jahren ist mein Erspartes aufgebraucht.

Ich habe vorher schon in prekären finanziellen Verhältnissen gelebt - unter der Armutsgrenze, nennt man das auch.

War ich früher stolz auf meinen minimalistischen Lebensstil, lähmt mich nun eine allesumspannende Existenzangst.


Alles auf Null

Meine erste Panikattacke kommt in der Nacht und reißt mich aus dem Schlaf. Ich zittere unkontrolliert, mir ist speiübel und mein Herz rast wie verrückt. Ich habe unsagbare Angst, das „wovor“ ist jedoch unscharf und außerhalb meiner Reichweite. Ich kann es nicht greifen, weiß nur, dass ich Angst habe zu sterben. Ich weiß, dass etwas nicht stimmt, aber ich weiß nicht was. Etwas fühlt sich nicht richtig an. Vielleicht habe ich einen Herzinfarkt? Völlig panisch rufe ich nach zwanzig Minuten Pein die 112 an.

Ich bin allein, M. ist auf Tour und spielt Gitarre irgendwo in Norwegen oder Spanien.

Der nette Mitarbeiter am Telefon kann mich beruhigen. Zusammen gehen wir am Telefon meine Beschwerden durch, stellen sicher, dass keine lebensbedrohliche Situation besteht. Er sagt, er vermutet, dass ich eine Panikattacke habe. Bis dahin wusste ich nicht, dass Angstattacken auch nachts auftreten können.

Ich beruhige mich langsam, die Stimme am anderen Ende versichert mir sofort jemanden zu schicken, falls es schlimmer wird. Er gibt mir die Nummer vom kassenärztlichen Notdienst und rät mir am nächsten Tag zu meiner Hausärztin zu gehen.

An Schlaf ist in dieser Nacht nicht mehr zu denken, doch erschöpft, wie ich bin, schlafe ich gegen sechs Uhr morgens doch noch ein und fühle mich elendig, als ich am Vormittag erwache.

Mir wird klar, dass meine erste Panikattacke letzte Nacht nicht meine erste Panikattacke war, bei Weitem nicht. In diesem Zustand hatte ich mich über die letzten Monate schon öfter befunden: immer nachts, immer zitternd und voller Übelkeit und Angst.

Ich hatte es immer auf meine Schilddrüse geschoben und einen erneuten Basedow-Schub. Mir wird klar, dass ich scheinbar schon viel länger ein ernsthaftes Problem mit meiner Psyche habe. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.


Brauchen Sie einen Krankenschein?

Am Nachmittag sitze ich in der Akutsprechstunde meiner Hausärztin. Ich breche zusammen, weine hemmungslos und bringe alle Aspekte meines Trümmerhaufens von Leben auf den Tisch und treffe damit auf: sehr viel Verständnis.

Ich bin erleichtert und erstaunt und denke das erste Mal, dass ich zwar viele Selfcarebücher und Affirmationskarten gelesen habe, aber nie ernsthaft in Erwägung gezogen habe, dass meine Seele meinem Körper gefolgt, und einfach krank geworden ist.


Meine Ärztin gibt mir eine Überweisung zur Psychotherapie, ich bin entmutigt, denn ich weiß, wie lange man mitunter auf einen Therapieplatz warten muss.

Sie schreibt mir ein leichtes Antidepressivum auf, das meine Angst dämpfen soll. Ich nehme es nach anfänglichem Zögern und fühle mich seit Monaten endlich ein wenig entspannter.

Zur gleichen Zeit flattert der Bürgergeldbescheid ins Haus. Meine finanzielle Situation verbessert sich schlagartig und ich muss keine Angst mehr haben, die Miete nicht mehr zahlen zu können. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr mich meine finanzielle Notlage belastet hat.


Nach zweieinhalb Jahren innerer Sperre, dem hehren Anspruch, es irgendwie doch noch selbst hinzukriegen, gebe ich mich geschlagen. Niedergestreckt vom eigenen schwächlichen Fleisch und vom eigenen weichen Verstand. Aber eigentlich stimmt dieser letzte Satz nicht. Ich fühle mich nicht besiegt oder erledigt, vielmehr macht sich eine entspannte Ruhe in mir breit. Ich weiß, dass ich aktuell finanziell in Sicherheit bin. Ich denke: obrigkeitshörig, wie ich bin, kann ich mich also erst so richtig entspannen, wenn mir von einer Expertin in weißem Kittel schriftlich bestätigt wurde, dass ich gerade wirklich nicht mehr arbeiten kann – interessant. Leistungsgesellschaft lässt grüßen.

Sei es drum, ich bin arbeitsunfähig, und zwar schwarz auf weiß.

Ich sage alle meine aktuellen Kurse ab und kann mich ohne Druck das erste Mal seit fast drei Jahren, auf meine Heilung konzentrieren.


Depression, so mittelschwer

Über die 116117 bekomme ich schon in der darauffolgenden Woche einen Termin für ein Erstgespräch bei einer Therapeutin mit Kassensitz, in Leipzig.

Auch hier weine ich viel, umreiße kurz meinen Alltag, meine Beschwerden und das Handbremsenleben. Meinen zwei Grunderkrankungen fügt die Therapeutin dann, nach einer zweiten Sitzung, eine dritte hinzu: mittelschwere Depression.

Habe ich noch vor ein paar Wochen über meine Hausärztin gelacht, öffne ich mich jetzt langsam der Möglichkeit, dass meine Traurigkeit vielleicht eine Krankheit ist.

Die Worte „Posttraumatische Belastungsstörung“, „Angststörung“ und „depressive Episode“ schwirren durch den Therapieraum.

Ich weiß nicht, wie ich mich zu dieser Diagnose verhalten soll. Mein erstes Gefühl: Erleichterung. Das unbestimmte Gefühl der letzten Jahre, das etwas nicht stimmt, irgendwas nicht richtig ist, bekommt einen Namen: Depression.

In den nächsten Wochen taste ich mich an meine prominente chronische Erkrankung Nr. 3 heran. An manchen Tagen möchte ich sie umarmen, die Depression, weil ich endlich einen Namen habe: für die dunklen Momente, für die Panik- und Angstattacken, für dieses unbestimmte Gefühl von Hoffnungslosigkeit. An anderen Tagen ist mir die Bürde zu schwer und ich verharmlose das Krankheitsbild vor mir selbst, weil ich Angst vor dem Weg habe, der vor mir liegt.

Bei dem letzten (von drei) Akutterminen eröffnet sich die Möglichkeit dauerhaft bei Frau Doktor in Therapie zu gehen, jemand sei kurzfristig abgesprungen, ob ich Interesse hätte? Mir kommen die Tränen vor Glück, denn ich weiß wie schwer es ist, einen Therapieplatz in Leipzig, geschweigedenn überhaupt, zu bekommen.

Wir machen Termine für die nächsten drei Wochen aus und plötzlich fühle ich mich leicht, gesehen, versorgt und fast glücklich.

--


Was ich in den letzten Wochen, seit Therapiebeginn gelernt habe:

Krank sein ist keine Schwäche, auch wenn die Gesellschaft es so formuliert.

Gedankenknäule zu entwirren ist anstrengender als gedacht.

Meine Vergangenheit holt mich nicht ein, ich gebe meinem jüngeren Ich Gelegenheit zu heilen.

Chronische Erkrankungen sind scheiße.

Manchmal muss man die Perspektive wechseln, um etwas verstehen zu können.

Mein Körper ist stärker als gedacht.

Jeder Zustand ist temporär.

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Nachtrag

Ich habe mich dafür entschieden Auszüge aus meinem Therapietagebuch auf meinem Blog mit euch zu teilen. In den kommenden Wochen gibt es also immer wieder mal Beiträge zu einzelnen Therapiesitzungen und die Erkenntnisse, die ich aus ihnen ziehe. All das passiert unregelmäßig, so, wie es mein Energiehaushalt zulässt. Ich freue mich, wenn ihr mich auf dem Weg durch die Depression und ihre Behandlung begleitet und vielleicht könnt ihr sogar einen Mehrwert für eure eigene Situation daraus ziehen. Zumindest wird ein Raum geschaffen für Betroffene, für Angehörige, zum Reden und sich gegenseitig supporten.


Solidarische und hoffnungsvolle Grüße,

Ulrike






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