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AutorenbildUlrike Lichtenberg

Therapietagebuch - Sitzung #3

In diesem Beitragsformat nehme ich euch mit durch meine Therapiestunden. Der Weg führt einmal durch meinen Kopf, durch mein Herz und bis auf den Grund meiner Seele. In Auszügen teile ich hier meine Gedanken, Erfolge und Misserfolge in der Therapiearbeit, die ich in meinem persönlichen Therapietagebuch festhalte.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es u.a. um Depressionen und chronische Erkrankungen bzw. chronische Schmerzen.



Das Thermometer zeigt 27 Grad. Es ist Ende September und trotz der Wärme fröstelt es mich bei dem Gedanken an die kommenden Sommer, mit anhaltenden Hitzewellen, die sich mit Starkregen und Überflutungen für die menschengemachte Klimakrise bei uns revanchieren werden. Ich sitze im Cityflitzer, um zu meiner Therapiestunde zu cruisen.

Das Fahrrad würde sich besser anfühlen. Eine so lange Strecke mit dem Rad zu bewältigen, traue ich mir jedoch aktuell nicht zu, also bleibt mir nur das Leihauto, denn die Haltestellen der Öffis liegen zu ungünstig und meine Knie können derzeit nicht lange laufen.


Die letzten Tage waren grün, heute allerdings fühle ich mich sehr müde und schätze den Tag insgesamt auf ein solides orange. Ich führe seit der ersten Therapiesitzung ein Emotionstagebuch, das ich nach einem bestimmten Farbschema führe: Grün für die großartigen, oder zumindest guten Tage, gelb für die „so Lala“-Tage, orange für „außer Sofa geht nicht viel“ und rot für die absoluten Scheißtage.

Jedem Tag ordne ich eine Farbe zu und halte den Grund für die jeweilige Farbauswahl fest. Das hat mir meine Therapeutin bereits in der ersten Akutsitzung empfohlen und ich bin stolz auf mich, dass ich es den kompletten September durchgezogen habe.



In der Übersicht fällt mir auf: Nur drei Tage von 30 waren orange, rote Tage hatte ich gar nicht und die grünen Tage haben mit Abstand überwogen. Wenn man an einem orangenen oder roten Tag alle Hoffnung verliert, dass es jemals wieder besser werden wird, hilft mir jetzt ein Blick in mein Bulletjournal. Meine Aufzeichnungen erinnern mich daran, dass die Mehrzahl meiner Tage schön, lebendig und lebenswert sind. Ich feiere diesen Effekt massiv und werde das Emotionstagebuch auf jeden Fall weiterführen, hat es mir doch an so manchem gelben Tag aus einem orangenen Gedankenstrudel geholfen. Mir fällt ein Bild zu dieser Technik ein: Sich an den eigenen Haaren aus dem Morast ziehen. Aus eigener Kraft schwere Momente abmildern. Ein kraftvolles Bild, und ich fühle eine „Münchhausensche Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren ins Dasein zu ziehn.“ Wie Nietzsche es einst eindrucksvoll formulierte.


Im ersten Teil der Sitzung sprechen wir über die Dinge, die mich zurückhalten, mehr mit dem Rad zu fahren. Bei dem Versuch, all die (für mich sehr logischen) Gründe aufzuzählen, warum ich eben nicht Fahrrad fahren kann, wird mir klar, dass meine Gründe vielleicht gar nicht so schwerwiegend sind, wie sie sich manchmal anfühlen.

Das Problem: Meine Knie, Handgelenke, mein Popo tut weh vom langen und ungewohnten Sitzen.

Die Lösung: Die Strecke in mehrere Teilstücke aufteilen und zwischendurch Pausen einplanen. Und: je öfter ich fahre, desto weniger tut der Popo weh.

Das Problem: Ich habe Angst die Rückfahrt nicht zu schaffen.

Die Lösung: Von vornherein die Rückfahrt mit den Öffentlichen einplanen, so kann ich vom Rad auf die Bahn umsteigen, wenn die Knie nicht mehr wollen.

Das Problem: Meine Angst auf öffentlichen Straßen (manchmal ohne Radweg) fahren zu müssen.

Die Lösung: Einen Helm aufsetzen und vorher einen gemütlichen Weg durch Parkanlagen und Straßen suchen, die mit Radwegen ausgestattet sind. Bonus: Nebenbei die Stadt ein bisschen besser kennenlernen.


Ich nehme mir fürs nächste Mal vor: Anstatt von zu Hause zum Termin zu hetzen und den kürzesten und schnellstmöglichen Weg ans Ziel zu finden, könnte ich beispielsweise den Stress rausnehmen, indem ich von vornherein früher losfahre. Einfach aber genial, denn ich bin eine von den Menschen, die immer auf Anschlag losfahren um gerade noch pünktlich zu sein, oder eher ein wenig zu spät. Mehr Zeit einplanen, Teilstrecken, Parkbankpausen, einen Kaffee in der Sonne trinken. Ich bin gespannt, ob ich es schaffe meinen Plan umzusetzen.


Ein weiterer Druckpunkt beschäftigt mich aktuell sehr: meine Krankschreibung und das Rezept für mein Antidepressivum bekomme ich nicht mehr von meiner Hausärztin. Sie reicht meinen Fall an eine:n Fachärzt:in weiter und ich muss nun zusätzlich noch regelmäßig beim Psychiater vorstellig werden.

Ich telefoniere in einer Woche mit ca. 30 Psychiater:innen im Raum Leipzig, nirgendwo bekomme ich einen Termin. Die Telefonate sind frustrierend und kräftezehrend. Ich frage mich wie das System einem depressiven Menschen so unfassbar viel Bürokratie aufhalsen kann, wenn es an manchen Tagen für uns kaum möglich ist eine Dusche zu nehmen.


Also: nochmal zur Hausärztin. Diesmal bekomme ich eine Überweisung als „Hausarztvermittlungsfall“. Frau Doktor vermittelt mich gezielt an eine bestimmte Praxis, die mir zeitnah einen Termin geben muss. Für die Fachärzt:innen ist mit so einer Spezial-Überweisung mehr Geld von den Krankenkassen zu holen und ich wundere mich über nichts mehr, als ich am nächsten Tag in besagter Praxis anrufe, die in der vergangenen Woche den nächstmöglichen Termin im Dezember frei hatte, mir jetzt aber einen freien Termin für übermorgen anbietet. Ich mache der Termin fest und verfluche das privatisierte Gesundheitssystem.


Zu Beginn meiner Verhaltenstherapie habe ich einen biografischen Fragebogen ausgefüllt, um die groben Fakten meines Aufwachsens, Familienzugehörigkeiten und aktuelle Lebensentwürfe für meine Therapeutin zugänglich zu machen.

Im zweiten Teil der Sitzung arbeiten wir uns nun durch den Fragebogen und Frau Doktor fragt mich Dinge wie: Warum sind Sie so oft umgezogen als Kind? Warum haben Sie so oft die Schule gewechselt/wechseln müssen? Auf welche Art beschäftigt Sie der sexuelle Missbrauch und wie oft? Welche Dinge möchten Sie in Zukunft mit Ihrem Partner wieder mehr teilen/erleben? Wie ist es aktuell um Ihre Sexualität in der Partnerschaft bestellt? Möchten Sie weiter selbstständig sein und was genau gefällt Ihnen daran bzw. was macht Ihnen Angst in der Selbstständigkeit?


Diese Fragen habe ich mir selbst schon oft gestellt. Sie rollen immer mal wieder in meinem Kopf hin und her und ich debattiere die Antworten mit mir selbst aus.

Jetzt offen und frei darüber zu sprechen, mit einer außenstehenden Person, macht die Fragen irgendwie realer und die Antworten wiegen schwerer.

Dinge aus meinem Lebenslauf, die ich bis jetzt für völlig normal gehalten hatte, bekommen nun ein anderes Cholorit, sie werden dreidimensional.


Als Kind und Jugendliche war ich auf sechs verschiedenen Schulen. Ich war immer die Neue, musste mich immer wieder in neue Gruppendynamiken einfühlen, wurde gemobbt und war meistens die Außenseiterin. Es stimmt mich schon immer traurig, dass ich keine nennenswerten Erinnerungen an meine Schulzeit habe. Weder an die Grundschule noch an die höheren Schulen. Ich kenne auch nur noch ein paar Namen aus meiner Abiturklasse (genaugenommen drei), und Kontakt habe ich zu diesen Menschen nicht.


War ich einsam als Kind?

Ich habe definitiv lieber gelesen, als draußen zu spielen – oder verklärt und romantisiert sich mein Blick auf meine eigene Kindheit im Laufe der Jahre?

Meine Erinnerungen sind kurze Schlaglichter, Momentaufnahmen, oft ohne Zusammenhang.

Ich erinnere mich an Spielplätze, Sandkästen, aufgeschürfte Knie, sexuelle Übergriffe, Baden im See, Angst vor dem fiesen alten Nachbarn mit den vollgepissten Hosen, meine beste Freundin Ilka, Klauen im Spar um die Ecke und heimlich Rauchen zwischen den alten Plattenbauten, in deren Ecken es immer nach Fäkalien gestunken hat.


Eine Jugend in den 90ern zwischen Platte und Nazimob: Apfelkorn trinken im Jugendclub und die Clique von dem Typen, mit dem ich meinen ersten Kuss hatte und der danach meinem Hund eine Schreckschuss an den Kopf gehalten hat. Erwachsen werden in Angst und Unsicherheit. Nie hatte ich meine Kindheit und Jugend als unglücklich wahrgenommen, doch die Gewalt, die die jüngere Version von mir erdulden musste, erschreckt mich heute zutiefst.

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