Kunst ist kein Hobby: Warum freischaffende Künstler:innen in Armut leben – und was sich ändern muss
- Ulrike Lichtenberg
- 25. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. März
Wir müssen reden! Über Geld, über Strukturen und über kulturpolitisches Versagen.
Als freischaffende Künstlerin in Deutschland stehe ich täglich vor Herausforderungen, die weit über den kreativen Prozess hinausgehen. Die finanzielle Unsicherheit, der ständige Kampf um Anerkennung und die unzureichenden Förderstrukturen machen es schwer, von der eigenen Kunst zu leben. In diesem Artikel möchte ich meine persönlichen Erfahrungen teilen, die strukturellen Probleme beleuchten und mögliche Lösungsansätze diskutieren.

Die Realität freischaffender Künstler:innen
In Deutschland gibt es eine Vielzahl künstlerischer Disziplinen, darunter:
Darstellende Künste
Bildende Künste
Literatur
Musik
Film & audiovisuelle Kunst
Architektur & Design
Kunsthandwerk & Angewandte Kunst
Medien- und interaktive Künste
Mixed Arts & Interdisziplinäre Kunst u.n.v.m.
Unabhängig von der gewählten Kunstform teilen viele von uns ähnliche Herausforderungen: unregelmäßige Einkünfte, fehlende soziale Absicherung und ein hoher administrativer Aufwand. Laut dem Statistischen Bundesamt hatten 2019 rund 36 % der bildenden Künstlerinnen und Künstler ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 1.100 Euro . Diese Zahlen verdeutlichen, wie schwierig es ist, allein von der Kunst zu leben.*
Der Mythos vom Hobby: Kunst als Beruf
Immer wieder stoße ich auf die Annahme, dass künstlerische Tätigkeit eher ein Hobby als ein ernstzunehmender Beruf sei. Diese Vorstellung verkennt den enormen Arbeitsaufwand, den wir täglich leisten. Unsere Aufgaben umfassen nicht nur das kreative Schaffen, sondern auch:
Content-Erstellung für soziale Medien: Selbstvermarktung und Öffentlichkeitsarbeit sind unerlässlich, um sichtbar zu bleiben.
Buchhaltung: Finanzielle Verwaltung und Steuerangelegenheiten erfordern Genauigkeit und Zeit.
Organisation und Planung: Projektmanagement und Terminplanung sind entscheidend für den Erfolg.
Kundenkontakt und -pflege: Akquise und Betreuung von Auftraggebern sichern zukünftige Projekte.
Webseitenpflege: Eine aktuelle Online-Präsenz ist heute unverzichtbar.
Im Vergleich dazu haben Angestellte oft klar definierte Aufgabenbereiche und profitieren von festen Strukturen sowie sozialer Absicherung.
Unzureichende Förderstrukturen in Deutschland
Die Kulturförderung in Deutschland ist komplex und oft unzureichend. Viele Förderprogramme sind projektbezogen und decken selten den Lebensunterhalt ab. Hinzu kommen bürokratische Hürden und mangelnde Transparenz bei der Mittelvergabe. Diese Strukturen zwingen viele von uns dazu, zusätzliche Erwerbstätigkeiten anzunehmen, um finanziell über die Runden zu kommen.
Ein Blick in die baltischen Staaten
In meinem ersten Leben als Sängerin war ich mehrfach im Baltikum auf Tour und habe dort, die kulturpolitischen Strukturen erleben und mit lokalen Künstler:innen diskutieren dürfen.
In Estland, Lettland und Litauen wird Kunst und Kultur ein hoher Stellenwert beigemessen. Diese Länder haben erkannt, dass eine lebendige Kulturszene nicht nur kulturelle Traditionen bewahrt, sondern auch zur Identitätsbildung und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt. Die Tradition der "Singenden Revolution" in Lettland beispielsweise zeigt, wie tief verwurzelt kulturelle Ausdrucksformen in der Gesellschaft sind. Diese Wertschätzung spiegelt sich auch in den Förderstrukturen wider, die Künstlerinnen und Künstlern dort bessere Unterstützung bieten.

Exkurs: Die Singende Revolution – Kultur als treibende Kraft gesellschaftlicher Veränderungen
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Kunst und Kultur gesellschaftliche Veränderungen bewirken können, ist die Singende Revolution im Baltikum. Zwischen 1987 und 1991 nutzten die Menschen in Estland, Lettland und Litauen den Gesang als gewaltfreies Mittel des Protests gegen die sowjetische Besatzung. Volkslieder, die zuvor unterdrückt wurden, entwickelten sich zu einem starken Ausdruck nationaler Identität und Widerstandskraft.
Besonders bekannt ist das Liederfestival von Tallinn, bei dem sich Zehntausende versammelten, um gemeinsam traditionelle estnische Lieder zu singen. Diese friedliche, aber machtvolle Form des Widerstands trug maßgeblich zur Unabhängigkeit der baltischen Staaten bei. Bis heute spielt Kultur dort eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben – und wird auch politisch und wirtschaftlich deutlich stärker unterstützt als in Deutschland.
Was bedeutet das für uns?
Die Singende Revolution zeigt eindrucksvoll, dass Kunst und Kultur nicht nur Luxusgüter sind, sondern fundamentale Elemente der Identitätsbildung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Eine lebendige Kunstszene kann nicht nur Menschen inspirieren, sondern auch historische Veränderungen anstoßen. Warum also werden Künstler:innen in Deutschland weiterhin in prekären Verhältnissen gehalten, anstatt sie als essenzielle Säule einer demokratischen Gesellschaft anzuerkennen?
Lösungsansätze aus persönlicher Sicht
Angesichts dieser Herausforderungen frage ich mich oft, wie wir die Situation verbessern können. Hier einige Gedanken:
Reform der Förderstrukturen: Es wäre hilfreich, wenn Förderprogramme nicht nur projektbezogen wären, sondern auch den Lebensunterhalt sichern könnten. Eine transparente und unbürokratische Vergabe würde uns ermöglichen, uns mehr auf unsere Kunst zu konzentrieren.
Soziale Absicherung: Der Zugang zu Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sollte erleichtert werden. Ein Modell, das die spezifischen Bedürfnisse von Künstlerinnen und Künstlern berücksichtigt, könnte hier Abhilfe schaffen.
Gesellschaftliche Wertschätzung: Es braucht ein Umdenken in der Gesellschaft. Kunst ist nicht nur Unterhaltung, sondern ein essenzieller Bestandteil unserer Kultur und Identität. Bildungskampagnen könnten dazu beitragen, das Bewusstsein für den Wert künstlerischer Arbeit zu schärfen.
Bürokratieabbau: Einfachere Antragsverfahren und weniger bürokratische Hürden würden uns viel Zeit und Energie sparen, die wir lieber in unsere kreative Arbeit investieren würden.
Fazit
Die finanzielle Situation vieler freischaffender Künstlerinnen in Deutschland ist prekär und erfordert dringende strukturelle Veränderungen. Ein Blick in die baltischen Staaten zeigt, dass eine höhere Wertschätzung von Kunst und Kultur sowie umfassendere Förderstrukturen positive Effekte haben können. Es ist an der Zeit, dass Politik und Gesellschaft den Wert künstlerischer Arbeit anerkennen und entsprechende Maßnahmen ergreifen, um uns ein würdiges und sicheres Arbeiten zu ermöglichen.
Was bleibt?
Bildet Banden und vernetzt euch in eurer lokalen Kunst- und Kulturszene.
Schluss mit Gatekeeping! Nur wenn wir uns gegenseitig supporten, kann sich die Situation für alle verbessern. Schließt euch Initiativen an und werden Mitglied in Gewerkschaften.
Redet über Geld! Nur wenn wir in den Diskurs gehen und uns zu Tabuthemen wie Gagen und Honoraren austauschen, haben wir eine Chance zur Mitgestaltung und zur Beeinflussung der Preispolitik.
Habt ihr noch weitere Ideen? Schreibt sie gern in die Kommentare!
Bleibt inspiriert & kämpferisch,
Ulrike
Comments