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Der poetische Monatsrückblick - Januar 2023

Eine literarische Rückschau auf all die Januar-Dinge, die ich erlebt, gelernt und geliebt habe. Meinen poetischen Monatsrückblick gibt es immer am letzten Tag eines jeden Monats.



Das neue Jahr startet sonnig und grau. Beim Neujahrsspaziergang finde ich eine rosa Sektflasche im Rinnstein. Sie ist noch verschlossen. Roter Böllerstaub liegt in der Luft und Berge von Feuerwerksmüll stapeln sich, fein säuberlich, neben dem restlos überfüllten Müllcontainer. Ordnung muss sein. Ich finde das sehr deutsch.

Wenige Tage später ist die Not der Hundebesitzer:innen im Viertel so groß, dass sie die gelben und schwarzen Hundekottüten mit der Notdurft ihres Weihnachtsgeschenks, zu einem extra Haufen auftürmen und das Wortspiel liegt nahe: Was für ein Riesenhaufen Scheiße.

Und zugleich eine Installation, eine Gemeinschaftsarbeit, die auch noch steht, als der Pappmüll der Feuerwerksbatterien von der Leipziger Stadtwirtschaft längst fortgeräumt ist.

Schüchtern wagt sich an diesem ersten Tag des Jahres die Sonne hervor und taucht das Müllarrangement in romantisch goldenes Licht.


Am nächsten Tag ist der Ausblick von der Eisenbahnbrücke graublau, blattleere Birkenstämmchen säumen das schmutzige Gleisbett.

M. und ich spazieren wieder, denn beim Spazieren besprechen wir all die Dinge, die uns bewegen.

Am Küchentisch lackieren wir uns die Fingernägel schwarzweiß und ich denke an das Yin und das Yang, das wir nun auch nageldesigntechnisch darstellen.

An diesem Tag schreie ich stumm ins Grau des jungen Januars und schreibe die erste Liste meines 52 Listen-Projekts. Ich notiere all die Dinge, die mir gerade durch den Kopf gehen: Arzttermine und kaputte Lieblingssteine, große Pläne und bescheidene Wünsche, und die Angst vor neuen Wegen.

Im Außen finde ich buntes Silvesterkonfetti auf den Straßen, auch noch Tage nach dem Jahreswechsel. Mit meiner Kamera fange ich die spärlichen Sonnenstrahlen in meiner Küche ein: Es geht alles vorüber, steht da in altdeutscher Schrift. Eine kleine Erinnerung, in Holz gerahmt, für dunklere Tage, erstrahlt heute im Sonnenglanz und lässt meine Zuversicht hüpfen.



Lesen will ich in diesem Jahr, viel lesen, also baue ich mir einen Stapel aus den ersten zwölf Büchern, denen ich mich zuerst widmen möchte.

Von Mittwoch bis Freitag streift mich ein Infekt und lässt mich träge und unendlich müde auf dem Sofa und wahlweise im Bett verweilen. Ich fühle mich erschlagen, schlafe zwei Tage lang und gehe am Freitag die erste längere Runde spazieren.

Es ist Samstag und während ich auf dem Sofa liege, stricke und dabei einen unglaublich berührenden Roman als Audiobook höre, erfasst mich ein wahnsinniges Fernweh. Ich möchte auf der Stelle reisen, nach Marokko. Ich will in Fès über den Markt in der Medina schlendern, meine Füße in Meerwasser tauchen oder einen Bergtrail wandern.

Ich beschließe in diesem Moment, dass 2023 das Jahr sein wird, in dem ich endlich wieder eine Reise tun werde.


Am Vierten Ersten stelle ich die Wutfrage und finde so mein Motto für 2023: Ich will laut sein, beschließe ich, meine Wut adressieren. Mir schwant, dass die Reiseroute weit außerhalb meiner Komfortzone liegen wird, doch Schweigen ist ab jetzt keine Option mehr.

Bei einem Nachtspaziergang schaue ich den fast vollen Mond an. Ich grüße ihn wie einen alten Freund und lege meine Zuversicht in seine weisen knorrigen Hände. Aufpassen soll er auf meinen Schatz. Ihn hüten, beschützen und wenn ich auf meiner Reise einmal die Zuversicht verlieren sollte, wird ein Blick in den Nachthimmel die Erinnerung an unsere alte Freundschaft wecken und ich werde mich geborgen fühlen können.



Bei einem Gang durchs Viertel fällt mir einmal mehr auf wie die Menschen so sind und dass es mir ein ewiges Rätsel ist. Sie kleben von außen silberne Rettungsfolie in die Fenster und werfen ihre ausgedienten Weihnachtsbäume an jede Ecke, die mit Hausschuhen noch erreichbar scheint.

Das Schreiben findet am Neunten Ersten zu mir zurück und in der blauen Stunde finde ich die Stille und höre, wie laut sie mitunter in unseren Ohren dröhnt.



M. und ich sortieren unseren Holzverschlag und ich lese „Briefe an die Täter“, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht allein bin, dass wir viele Überlebende sind, dass es Menschen gibt, die mein Trauma und meinen Schmerz teilen und verstehen und anerkennen.

Mein erster Roman des Jahres „Ein wenig Leben“ schenkt mir intensive, emotionale und herzzerreißende Lesestunden. Die Geschichte fährt mir ins Mark und hallt noch viele Tage und Wochen in mir nach.


Mitte Januar besuche ich meinen Garten, der in nasskalter Einsamkeit liegt. Es riecht nach feuchter Erde und verrottendem Laub. Die Eisblumen an den Fenstern sind verschwunden, die Spuren im Schnee längst vergangen. Mich fröstelt es in der Kälte und doch träume ich sofort von Sommer und der grünen Wonne in den Beeten. Als ich an dem Tag nach Hause komme, setze ich mich Abends vor den Ofen und plane die kommende Gartensaison. Chilis, Tomaten und dicke Bohnen werde ich anbauen, aber keinen Zuckermais in diesem Jahr.


M. spielt sein erstes Konzert des Jahres und ich gehe mit, treffe eine alte Freundin und wir lauschen der Band, können uns aufgrund der Lautstärke aber kaum unterhalten. Wir haben uns so lange nicht gesehen und eigentlich viel zu bereden, stattdessen lächeln wir uns immer wieder an, prosten uns wiederholt zu und bewundern die wehenden Röcke die Tänzerinnen.

Am nächsten Morgen riechen meine Haare nach abgestandenem Frittierfett.


Ein wichtiges Gespräch steht an und ich sammle all meine Energie für das erste Treffen von drei Menschen, die einmal gute Freunde waren und nun ein gemeinsames Projekt vereint zu Grabe tragen müssen. Es wird der schwerste, aber auch der leichteste Schritt in unserer gemeinsamen Bandgeschichte werden.


Am Achtzehnten Ersten kommt der Schnee zurück und dicke schwere Flocken umwehen unsere bemützten Köpfe, während M. und ich die richtige Einfahrt suchen. In der Werkstatt des Gitarrenbauers riecht es nach Ölen, Harzen, Lösungsmitteln und alten Hölzern. Wir plaudern. Am Abend sind wir bei Freunden zum Essen geladen. Ich bekomme ein Kochbuch ausgeliehen und gleich am nächsten Tag gibt es für M. und mich ein israelisches Nudelgericht. Wir genießen das Essen und ich öffne die Flasche französischen Rotwein, die ich aus dem letzten gemeinsamen Urlaub mitgebracht habe und aufheben wollte, um damit anzustoßen, wenn ich mich besser, wenn ich mich gesund fühlen würde.


Am Zweiundzwanzigsten Ersten begraben wir die Band. Eine Welle der Erleichterung durchfährt mich und ich merke, dass meine individuelle Trauerphase schon lange hinter mir liegt. Ich fühle mich leicht und plötzlich voller Energie, wie, als hätte ich eine schwere Fußfessel endlich abstreifen können. Ich kündige die Website, wir teilen die restlichen Tonträger unter uns auf und sind ein bisschen traurig, wie profan und pragmatisch zehn Jahre voller musikalischer Emotionen, zu Ende gehen können. Ein wenig unsicher stehen wir ein letztes Mal am Tor des Proberaums und verabschieden uns. Bis bald. Niemand von uns weiß, wann das sein wird. Auf dem Rückweg pfeife ich mein Lieblingslied unseres letzten Albums und fühle mich tiefenentspannt.



Mit Freundinnen treffe ich mich im Gewandhaus, um ein Geburtstagsversprechen einzulösen. Beethoven bewegt mich, Leonard Bernstein finde ich laut und scheußlich. Wagner klotzt pathetisch. Am nächsten Tag löst sich das Grau ein wenig auf, kämpft sich die Sonne zwischen den Wolken hervor und ergießt ihr goldenes Licht über einen nasskalten Park. Ich sehne mich jetzt sehr nach Wärme und Frühlingsduft. Und eine seidene Ahnung streift meine Gedanken, dass es jetzt nicht mehr so lang dauern wird, dass der Winter jetzt bald wird gehen müssen.


M. und ich spazieren wieder. Der Kanal ist eisbedeckt. Jemand hat versucht die Eisfläche mit leeren Bierflaschen aufzubrechen und braune und grüne Glassplitter sind fast bis zum anderen Ende des Ufers geschlittert. Ein Stück weiter, flussaufwärts, ist das Eis verschwunden und wir entdecken ein Fahrrad, das nahe am Ufer von jemandem im Wasser versenkt wurde.

Wir gehen weiter und ich fotografiere Dinge, die rosa sind.

Zurück am Küchentisch fällt ein Lichtstrahl ein und lässt mich einen kurzen Text über Widerstand und Zerbrechlichkeit denken.



Der Januar endet verregnet. Allein die Zuversicht bleibt: Das Grau wird heller werden. Grünes wird wieder sprießen. Der Mond wird mich beschützen. Ich kann Dinge, die mir nicht guttun, gehen lassen. Die Sonne wird zurückkommen und mir die Glieder wohlig wärmen. Ich träume mich in den Frühling und schreibe diese Zeilen mit klammen Fingern, bei flackerndem Kerzenschein, doch innerlich mit nackten Füßen durchs Gras laufend, in der Sonne dösend. In mir summt leise eine Frühlingslied.

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