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AutorenbildUlrike Lichtenberg

Therapietagebuch - Sitzung #1

In diesem Beitragsformat nehme ich euch mit durch meine Therapiestunden. Der Weg führt einmal durch meinen Kopf, durch mein Herz und bis auf den Grund meiner Seele. In Auszügen teile ich hier meine Gedanken, Erfolge und Misserfolge in der Therapiearbeit, die ich in meinem persönlichen Therapietagebuch festhalte.

Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es u.a. um Depressionen, Essstörung und chronische Erkrankungen bzw. chronische Schmerzen.


eine gelbe vintage Schreibmaschine steht auf einer dunkelbraunen Tischplatte. Ein weißes Blatt ist eingespannt und das Wort: Therapietagebuch ist darauf zu lesen.
Therapietagebuch

Ich habe nicht gut geschlafen, mein Frühstück war eigenartig und ich fahre mit Bauchschmerzen und einem zur Faust geballten Gesicht, an diesem Dienstagvormittag, zu meiner ersten offiziellen Therapiestunde.

Da ich ein bisschen zu früh dran bin, bleibe ich noch ein wenig im Cityflitzer sitzen, um die Sprachnachricht einer Freundin, die mich heute früh so aus der Fassung gebracht hat, noch einmal anzuhören.

Um 11:28 Uhr dann klingle ich mich in die Praxisräume.

Endlich in dem großen, sehr bequemen, türkisfarbenen Therapiestuhl angekommen, fragt mich meine Therapeutin wie es mir geht und ob ich etwas Bestimmtes zu Beginn besprechen möchte, das mich gerade beschäftigt. Ich sage, es gibt tausend Themen, die ich gern besprechen würde, aber am liebsten hätte ich gern einfach einen Rat.


Ich berichte von besagter Sprachnachricht und meiner Unfähigkeit eine adäquate Antwort zu finden, weil mich Ton und Inhalt so sehr aufgewühlt haben.

Und hier habe ich mein erstes Aha-Erlebnis:

Wenn man mit Emotionalitäten in Beziehungen nicht weiterkommt, oder mit ihnen überfordert ist, hilft es, auf die reine Informationsebene zu gehen.

Ein Beispiel: Eine befreundete Person geht unsensibel mit einem Thema, das mir sehr wichtig ist, um und fragt gleichzeitig, auf einer anderen Ebene, auch noch nach einem Gefallen.

Auf der Informationsebene wurde mir eine ja/nein-Frage gestellt, die ich einfach höflich ablehnen kann. Mit dem Rest muss ich mich jetzt in diesem Moment gar nicht weiter auseinandersetzen, wenn das meine Kapazitäten sprengt.


Normalerweise hätte ich sicher in den nächsten Tagen endlos darüber nachgedacht 1. Wie unsensibel sich meine Freundin mir gegenüber verhalten hat. 2. Wie sehr mich das verletzt und geärgert hat. 3. Wie ich ihr meine Verletztheit klar machen könnte, ohne sie dabei zu verletzten. 4. Dass ich mich lieber erstmal nicht bei ihr melde, weil ich solche Konflikte generell lieber versuche zu vermeiden. 5. Wie wichtig es aber ist, ehrlich mit seinen Freund:innen zu sein. 6. Wieviel Kraft mich dieses Gespräch kosten würde. 7. Dass ich diese Kraft aktuell nicht aufbringen kann. 8. Dass ich mich schlecht fühle, nicht die Kraft dafür aufbringen zu können, schließlich ist es doch nur ein Gespräch unter guten Freundinnen… aber ein simples Nein, ohne sich selbst zu erklären?


Ich muss lachen, weil ich nicht glauben kann, dass ich auf diese simple Strategie nicht selbst gekommen bin. Noch in der Therapiestunde schreibe ich also eine Nachricht an die Freundin: Tut mir leid, das mit dem Gefallen wird leider nichts. Liebe Grüße.

Keine Erklärung, keine Selbstlegitimation, keine triftigen Gründe, warum ich den Gefallen nicht gewähren kann – einfach: Nein. Ich fühle mich befreit.


Dann zeigt mir meine Therapeutin eine Abbildung. Sie erklärt: Hieran kann man nachvollziehen (sie fährt mit dem Finger die einzelnen Linien des Diagramms nach), wo die individuell vererbten bzw. erlernten Stressoren, wie auch die Alltagsbelastungen liegen, denen man einerseits schon immer und andererseits tagtäglich ausgesetzt ist. Je nach Zusammensetzung von Kindheitstraumata, erlernten toxischen Verhaltensmustern etc. und tagesaktueller Belastung durch Arbeit, Krankheit, Konflikte, verläuft die Belastungsgrenze (in meinem Fall also die Schwelle für Angstanfälle) eher im niedrigen oder im höheren Bereich.

Um herauszufinden, wo meine Belastungsgrenze genau liegt, fangen wir an über meine familiären Beziehungen, die mich zu großen Teilen geprägt haben, zu sprechen. Ich berichte von meiner Grundängstlichkeit, starken Verlustängsten in romantischen Beziehungen, der nicht diagnostizierten Angststörung meiner Oma, toxischem innerfamiliären Verhalten und dem sexuellen Missbrauch, der mir als Kind angetan wurde.


Mir wirbeln Kindheitserinnerungen durch den Kopf. Meine Gedanken schwirren von absurden und verletzenden Situationen, die ich als Kind und Jugendliche erlebt habe und wir machen einen Strich unter die heutige Sitzung, als ich merke, dass die schiere Menge an Flashbacks mich fast umhaut.


Ich bin stolz auf mich. Auf dem Weg nach Hause halte ich am Rewe, um mir ein Mittagessen zu gönnen. Als ich an der Kasse stehe wird mir bewusst, dass ich nicht hätte einkaufen müssen. Mein Kühlschrank und die Vorratskammer zu Hause sind voll. Trotzdem habe ich alles eingepackt, worauf ich Lust hatte: Fertigkram aus der Frischetheke (aktuell liebe ich Onigiris), Süßes und Chips, ein paar Alibi-Bananen.

Noch während ich an der Kasse stehe, wird mir klar, dass ich mich mit dem Einkauf gerade selbst belohne und dass das Einkaufen eine Strategie ist, mit den in der Therapiestunde aufgewirbelten Emotionen umzugehen. Konsum als Kompensationsmechanismus.

Der ungesunde Inhalt auf dem Transportband triggert zusätzlich meine Binge-Eating-Essstörung und ich finde mich in alten, unguten Verhaltensmustern wieder.


Es gibt, im wahrsten Sinne des Wortes, viel zu verdauen heute und der Rest des Tages verläuft wie ein sehr unruhiger, aber trotzdem irgendwie heilsamer Verdauungsschlaf.

Am Abend spreche ich dann mit M. über meine Therapiestunde und das erste Mal heute löst sich der Knoten in meinem Magen vollständig auf und ich sehe, wie gut es ist, trotz allen alten Leids, die Tür zur Vergangenheit aufzustoßen, um Muster und Verhaltensweisen, die mich gegenwärtig überfordern, einordnen und verstehen zu können.


Wow, was für ein Tag.

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