In diesem Beitragsformat nehme ich euch mit durch meine Therapiestunden. Der Weg führt einmal durch meinen Kopf, durch mein Herz und bis auf den Grund meiner Seele. In Auszügen teile ich hier meine Gedanken, Erfolge und Misserfolge in der Therapiearbeit, die ich in meinem persönlichen Therapietagebuch festhalte.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es u.a. um Depressionen, Essstörung, Kontrollzwang und chronische Erkrankungen bzw. chronische Schmerzen.
Mit dem Cityflitzer stehe ich an einer schlecht einsehbaren Kreuzung und warte auf das Ende der Autoschlange, so dass ich endlich abbiegen kann. Die Schlange ist lang und während ich warte, gleitet mein Blick zu den Bäumen am Straßenrand. Die grünen Wipfel wiegen sich im Wind und plötzlich fährt eine zarte Frühherbstböe zwischen das Geäst.
Ein kleines Blättermeer segelt sanft in Richtung Boden und gelbe, grüne und braune Blatttöne mischen sich mit der goldenen Septembersonne zu einem fließenden Teppich aus Licht.
Eine kurze Wehmut zieht mir durchs Herz und ich denke an ein Zitat, das ich neulich irgendwo gelesen habe: Der Herbst ist der Frühling des Winters.
Die Hoffnung ist zurück, ich weiß, dass heute ein guter Tag sein wird.
Ich parke in der Nähe der Praxis meiner Therapeutin und beim Öffnen der Hoftür kommt mir der alte Mann entgegen, den ich auch schon letzte Woche in der Praxis getroffen habe. Zerstreut schlängelt er sich eilig an mir vorbei.
Ein paar Minuten später sitze ich in dem großen türkisenen Sessel und blicke in die freundlichen Augen meiner Therapeutin.
In der folgenden Stunde sprechen wir über meine erhöhte Sensitivität bei körperlichen Missempfindungen. Sie sind Teil meines Krankheitsbildes und beschreiben die Somatisierungsstörung, unter der ich leide.
Es ist ein beschriebenes Krankheitsbild, bei dem Betroffene (Frauen erkranken übrigens doppelt so häufig wie Männer) Symptome empfinden, die keiner körperlichen Krankheit zugeordnet werden können. Die Symptome treten regelmäßig oder random auf, springen zwischen den verschiedenen Körpersystemen (z.B. Magen/Darm und Herz/Kreislauf) mitunter hin und her und sind für Betroffene wahnsinnig verunsichernd.
Nicht selten werden (vor allem Frauen) von den behandelnden Ärzt:innen nicht ernst genommen und als Hypochonder oder die Beschwerden als Stressgemengelage abgetan.
Die Symptome sind jedoch real und das Leiden ist echt, nur die Ursache lässt sich manchmal eben einfach nicht finden.
In meinem Fall kann ich von dauerhaften Verdauungsbeschwerden berichten, die direkt nach einer Bauch-OP angefangen haben. Im Juli 2020 wurde mir wegen einer Entzündung des Organs die Gallenblase entfernt. Statt Erleichterung hatte ich fortan täglich: schmerzhafte Blähungen, Magen- und Darmkrämpfe, Verstopfung, Durchfall, Völlegefühl, Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Zeitweise war es so schlimm, dass ich mehrfach einen Krankenwagen rufen musste, weil die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren. In der Notaufnahme stellten sie Verbrennungen zweiten Grades an meinem Bauch fest, weil ich mir die nackte Wärmflasche, mit kochendem Wasser befüllt, über Wochen auf die gleiche Stelle gelegt habe, um ein wenig Linderung zu bekommen.
Nach mehreren Magenspiegelungen, Koloskopien und wiederholtem Ultraschall fanden die Ärzt:innen: Nichts. Alles normal. Meine Hausärztin fragt: „Haben Sie schonmal Yoga probiert, gegen den Stress?“
Meine Therapeutin erklärt: Eine Somatisierungsstörung kann sich entwickeln, wenn Symptome über einen sehr langen Zeitraum, in unterschiedlicher Intensität auftreten. Mediziner:innen nennen das auch Habituierung. Mensch gewöhnt sich auf eine Art an die Symptomatiken und wird überaufmerksam gegenüber den eigenen körperlichen Abläufen. Im Verlauf erhöht sich das Kontrollbedürfnis sehr stark, womöglich bis hin zum Kontrollzwang.
Der Körper und später auch die Psyche geraten in eine Schieflage.
Ich habe z.B. starke Ängste vor meinen Symptomen und den anhaltenden Schmerzen entwickelt und habe mein Verhalten in Bezug auf meine Ernährung so angepasst, dass ich möglichst keine Symptome durch die zu mir genommenen Nahrungsmittel entstehen.
Dabei habe ich z.B. verschiedene Nahrungsmittelgruppen ganz vermieden (Hülsenfrüchte und Kohl) und ernährte mich monatelang von Schonkost (meist Haferflocken, Bananen & Reis). Ich verzichtete gänzlich auf Kaffe und Alkohol, da ich davon überzeugt war, davon Bauchschmerzen zu bekommen.
Über Wochen und Monate habe ich penibel Buch geführt, über die Dinge die aß, die Medikamente, die ich nahm und habe versucht mit Diagrammen, Listen und mystischen Formeln, Zusammenhänge zu erkennen. Das Ergebnis dieser verzweifelten Mühen: Ein aus der Form geratenes Kontrollbedürfnis, eine überachtsame Wahrnehmung in Bezug auf körperliche Abläufe und kein erkennbares Muster in all dem Symptomchaos - dafür noch immer Krämpfe und Übelkeit, sowie zusätzlich, als kleiner Bonus nebenher: Die harten Restriktionen beim Essen haben wiederum meine Essstörung getriggert, aber das ist eine Geschichte für eine andere Therapiestunde.
Tatsächlich lerne ich heute, dass es wirklich Menschen gibt, die ganz ungewöhnliche Symptome haben können, z.B. Muskelschmerzen, die sich keiner körperlichen Erkrankung zuordnen lassen. Sind diese Menschen nun einfach besonders sensibel, was ihre Körper angeht? Und wie hoch ist der Anteil an psychosomatischen Erscheinungen, die die Symptome erklären könnten?
Hier sind die Übergänge fließend und die Gefahr sehr groß, das Leiden der Menschen als Einbildung oder Hypochondrie abzutun. Betroffene sind in einem körperlichen und seelischen Ausnahmezustand, maximal verunsichert und verängstigt: da ist es keine Hilfe, wenn die Hausärztin wiederholt, einen Yogakurs empfiehlt.
Was dann nämlich passieren kann ist, wie in meinem Fall, dass Betroffene auf Ärzt:innenhopping gehen. Meine Überzeugung war: Die Mediziner:innen haben etwas übersehen, sie haben nicht genau genug geguckt, nicht die richtigen und wichtigen Blutwerte genommen. Ich bilde mir die Schmerzen doch nicht ein, da ist etwas mit meinem Körper nicht in Ordnung, also wechselte ich mehrfach Ärzt:innen. Ich war z.B. bei vier verschiedenen Orthopäd:innen.
Der eine empfahl mir ein neues Kniegelenk, der andere Ibuprofen, wenn zu sehr zwickt. Eine Ärztin verordnete Physiotherapie und „Abwarten“, ein anderer Arzt meinte meine Knie seien für Alter und Gewicht völlig unauffällig. Ganz ähnliche Erfahrungen machte ich mit Schilddrüsenärzt:innen (3) und Gastroenterologen (4).
Da frage ich mich, wie man da nicht wahnsinnig werden soll!
Wie oft habe ich mir gewünscht einfach „nur“ ein gebrochenes Bein zu haben. Man wartet acht Wochen, das Bein heilt und mit ein bisschen Physiotherapie ist man bald wieder fit.
In meinem Fall hat das Schicksal schwarzen Humor bewiesen, leider blieb mir jedoch das Lachen im Halse stecken und verursacht nun ein unangenehmes Zwicken: manchmal im Rücken, oft in den Knien, oder auch in den Eingeweiden.
„Wie komme ich denn nun aus dem Angst- und Schmerzkreislauf raus?“ frage ich Frau Doktor. Sie lächelt. „Den Anfang haben Sie schon gemacht.“
Nach drei Jahren Leiden, Qual und Elend, gehe ich jetzt regelmäßig zur Therapie. Ich arbeite hart daran ungesunde, eingeschliffene Verhaltensmuster zu erkennen und zu überschreiben. Seit wenigen Wochen nehme ich leichte Antidepressiva, die meine Angst und die nächtliche Panik unterdrücken und mir helfen, wieder eine Idee von einem guten Leben zu entwickeln.
Für den Anfang doch gar nicht so schlecht, oder?
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Lesetipp für von Depression Betroffene: Till Raether – Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?
Lesetipp für mehr Selbstliebe: Svenja Gräfen – Radikale Selbstfürsorge jetzt! Eine feministische Perspektive.
wo steigt die Party? Könnte selbst gemachten Glühwein mitbringen, bei dem Wetter
soviel gendern in einem Text, davon würde ich auch krank werden und die Kosten bei der Krankenkasse…… Regelmäßig Alkohol trinken wäre definitiv eine Option, im besten Fall gibts einen Reset und alle läuft wieder normal. Der Arzt mit den Ibus ist sympathisch, kannst du einen Kontakt herstellen? Lg
Ein toller Text, danke fürs Teilen! ❤️🩹