Eine literarische Rückschau auf all die November-Dinge, die ich erlebt, gelernt und geliebt habe. Meinen poetischen Monatsrückblick gibt es immer am letzten Tag eines jeden Monats.
Im Garten gibt es die letzten Blüten zu bestaunen, die sich bunt und beinah sommerlich, trotzig den ersten Frösten entgegenrecken. Gewürztagetes, Ringelblumen, Kapuzinerkresse und Studentenblumen bilden den passenden farblichen Rahmen für die Erdapfelernte. Große rote Kartoffeln grabe ich mit meinen Händen aus der feinkrümeligen feuchten Erde.
Das satte Orange der Blüten hängt an seidenen Fäden. Jeder Windhauch lässt vertrocknete Blütenblätter fliegen.
Einen Tag nach M.‘s Geburtstag sind wir im Gewandhaus. Die Wucht des Orchesters trifft mich mitten ins Herz. Eine Sopranistin im langen festlichen Kleid singt bezaubernd schön, während auf meinem Küchentisch die Schlumbergera in rosa und weiß erblüht.
Anfang des Monats haben wir viel Sonne. Meine Kamera fängt Sonnenstrahlen ein, konserviert ihre Wärme, macht ein Leuchten haltbar.
Wir gehen spazieren. Der Salbei im Garten steht saftig und duftet nach Spätsommer. Immer wieder halte ich mein blasses Gesicht in die letzten Sonnenstrahlen dieses Jahres.
Einige Spaziergänge später ist das Licht abends blau und der Wind schneidet durch die Maschen meines schweren Schals.
Ich entdecke das Tagebuch neu und verbringe viele Stunden mit dem Schreiben von kleinen Unwichtigkeiten. Zum Beispiel: Immer wenn ein Auto in unsere Straße einbiegt, fangen sich eintausend Regenbögen in der Fensterfolie an den Scheiben. Ich finde sie wunderschön.
Sonnenstrahlen auf dem Küchentisch lassen meine Gedanken tanzen.
Und das Herbstlaub raschelt unter meinen Füßen, als wir den Cirkus Bombastico besuchen. Der Zirkusdirektor ist mit den Jahren ein wenig kleiner geworden. Er brummt mir Worte der Wiedersehensfreude ins Ohr. Den Duft nach Zigarillos hat er abgelegt.
An einem Sonntag machen wir den ersten sehr langen Spaziergang und ich sehe seit Jahren die Reiher am Elsterflutbecken wieder. Sie haben keine Angst vor mir.
Mein 41. Geburtstag kommt und geht und ich denke an mein Bühnenselbst und fange an, die Musik und das Singen sehr zu vermissen. Eine Freundin bringt mir Kräutertee und selbstgemachte Marmeladen vorbei.
Der erste Schnee fällt am neunzehnten Elften und wir spazieren in den Garten, um Möhren aus der gefrorenen Erde zu ziehen und die Eisblumen an den Fenstern zu zählen. Auch die Vögel bekommen neue Körner.
Mein eingepflanzter Avocadokern macht eine Pflanze. Ich stelle sie ins Küchenfenster, damit die Sonne sie findet.
Verspätet sendet mir eine Freundin die allerschönsten Worte zu meinem Geburtstag und ich fühle mich ganz weich und besonders.
Licht und Schatten in meiner Küche faszinieren mich noch immer sehr. Beim Zahnarzt bekomme ich unterdessen ein neues Krönchen aufgesetzt.
Ich räume mein Bücherregal auf und streiche versonnen über die Buchrücken meiner Lieblingstexte. Kleine Anker aus Papier und Leim, die mir immer wieder das Leben retten.
Das letzte Licht an! des Jahres findet an einem Donnerstag in Philippus statt. Schleiermacher spielt John Cage und ich finde es erst schön, später anstrengend und am Ende unaushaltbar. Ein Vortrag über Nichts… und mit ihm die ganze Schwere, die in diesem Satz wohnt.
Ich fotografiere mich selbst mit rosa Mütze. Wir essen Kuchen aus der Tiefkühltruhe und gehen aus. An einem Freitag sehe ich buntschwarzes Leben in Leipzigs Konzertsälen.
Höre dumpfen Sound, spüre die Bässe durch meinen Körper vibrieren und eine kalte Feuchtigkeit auf der Haut. Auf dem Fliesenboden bleiben die Schuhsohlen kleben, von all dem verschütteten Bier. Ich laufe an diesem Abend viele Treppen, aber meine Knie schaffen mehr, als ich ihnen zutraue.
Wir besuchen das Schumannhaus und hören ein ganz wunderbares Streich-Quartett. Das Cello gräbt sich tief in meine Gehörgänge und ich möchte wohlig grunzen und blinzle ein paar Tränen beiseite, so schön klingt der Abend.
Am ersten Advent dann singe ich. M. und ich musizieren gemeinsam und nehmen damit unsere Advents-Tradition wieder auf. Ich bin überglücklich, dass meine Stimme zu mir zurückgefunden hat und fühle mich gleich ein bisschen vollständiger.
Zweimal kommt der Nebel im November zu uns. Er legt sich über die Straße wie eine kaltfeuchte Decke. Er schmiegt sich um Gartentore und bildet einen nasskalten Film auf dem angerotteten Laubhaufen, den der Wind in den Rinnstein drückt.
Der Nebel bringt die Fragen, die ich mich nicht traue zu fragen. Der Nebel bringt die Schwere, vor der ich mich fürchte.
Ein Abgesang auf Lothar König flimmert über die große Leinwand eines Leipziger Kinosaals und lässt mich tief beeindruckt zurück. Wann haben wir eigentlich unsere Radikalität verloren, frage ich mich. Sie ist in unseren Zwanzigern geblieben, flüstert mein Gewissen. Wir haben sie verraten für den eigenen Komfort, mahne ich mich selbst und nehme mir fest vor, bei der nächsten Demo gegen die Faschisten, auf die Straße zu gehen.
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