top of page

Der poetische Monatsrückblick - Mai 2023

Autorenbild: Ulrike LichtenbergUlrike Lichtenberg

Eine literarische Rückschau auf all die Mai-Momente, die ich erlebt, Dinge, die ich gelernt und geliebt habe. Meinen poetischen Monatsrückblick gibt es immer am letzten Tag eines jeden Monats.



Der Mai bringt Farbe, denn meine Küchenwände bekommen einen neuen Anstrich: sie leuchten taubenblau und weiß und die Spuren eines Wasserschadens verschwinden hinter dicken Farbschichten.


Ich lese Marlen Haushofer und zwinge mich zu kleinen Arbeiten und Vorbereitungen am Schreibtisch. Das Histamin und die Pollen vernebeln meine Sicht auf die Welt und ich suche meine Konzentration im Regal zwischen den Bücherrücken. Zwei Novellen lang finde ich sie tatsächlich wieder, bis die Nebelwellen erneut über meinem Kopf zusammenschlagen.


Am Sechsten Mai treffe ich eine kleine Kohlmeise auf dem Gartenweg. Sie hat Schwierigkeiten vom Boden aus zu starten und hüpft aufgeregt vor mir her. Ich ziehe einen großen Bogen, um das Arme nicht noch mehr zu verängstigen. Später frage ich mich, ob das Vögelchen es in die Höhe geschafft, oder die Katze ihre Chance ergriffen hat. Ich setze hoffnungsvoll auf die Flugkünste des Jungvogels und treffe mich am Abend mit einer Freundin.

Zur Auftaktveranstaltung der allerersten "Feministischen Buchwoche" sitzen wir, mit vielen anderen Interessierten, in der Feministischen Bibliothek MONAliesA und hören Vorträge und Diskussionen rund um feministische Perspektiven in der Buchbranche. In einem Eröffnungsvortrag setzt sich Doris Hermanns mit Literatur von Frauen auf historischer Ebene auseinander und es wird klar, warum wir so wenig über schreibende Frauen wissen. Ein Blick in die aktuell gängige Schullektüre reicht: Schülerinnen und Schüler lesen noch immer vor allem männliche Autoren, quälen sich mit Goethe, Schiller und Dürrenmatt. Somit wird das Fehlen weiblicher Perspektiven und Erfahrungswelten in der Literaturvermittlung weiter zementiert.



Was nehme ich mit? Ich lerne, dass Hildegard von Bingen vor 800 Jahren eine eigene Sprache erfunden hat und das in Albert Camus "Die Pest" ausschließlich männliche Figuren auftreten.

Anne Lister hat um 1800 eine Geheimschrift entwickelt, um in ihren Tagebüchern, über ihre romantischen und intimen lesbischen Beziehungen, frei schreiben zu können.

Die Uni Rostock hat eine Studie zur "Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb" durchgeführt, die ich zum Weiterlesen absolut empfehlen kann.

Die anschließende Podiumsdiskussion zum Thema "Frauen im Genre – Feministische Perspektiven auf Krimi, Fantasy und Graphic Novel" wird angeregt geführt und bringt mich dazu, dem Genre Graphic Novel mehr Platz in meinem Bücherregal einzuräumen. Obwohl die Bücher von Liv Strömquist dort schon lange einen festen Platz haben, öffnet mir die feministische Buchwoche den Blick für weitere großartige Autorinnen. Ich nehme das Buch "Drei Wege" von Julia Zejn mit nach Hause und lese es in wenigen Stunden komplett. Hier findet ihr dazu einen kleinen Eintrag in meinem Lesetagebuch.


An einem Sonntag gehen M. und ich auf den Flohmarkt. Wir suchen und finden eine neue alte Teekanne, die mich in 60er Jahre Vibes versetzt und sehr glücklich macht.

Neben den üblichen Ständen mit Seconhand-Klamotten, Büchern und altem Mobiliar finde ich einen Stand, der alten Zahnersatz verkauft. Ganz kurz bin ich versucht ein neues Bastelprojekt zu starten, kann mich in meinem Elan jedoch noch bremsen und trage am Ende statt der Silberzähne, meine neue Teekanne als Flohmarkt-Trophäe nach Hause.



Am Achten Mai ist es sonnig und im Garten ernte ich Frühlingszwiebeln. Die Erdbeeren stehen in voller Blüte und ich denke nach über Feminismus und wie man seinen eigenen Ansprüchen wohl genügen könnte.

Im Freitag lese ich einen spannenden Artikel zum Thema Pop-Feminismus und behalte mir ein paar O-Töne, über die ich lange nachdenke. Die Autorin Anđela Čagalj schreibt: "Der Wunsch ein moralisch korrekter Mensch zu sein, ist nachvollziehbar. Den eigenen Moralkompass trägt man durch Konsumverhalten nach außen. Mein Kaffee? Fairtrade. Mein Strom? Grün. Meine Influencerin? Feministin - klar. Wenn sich die Influencerin selbst als Feministin bezeichnet, genügt das, um den konsumierten Content als moralisch akzeptabel abzuhaken." Und weiter... "Indem dieser Titel [Feministin] jeder Frau hinterhergeschmissen wird - und jede Frau ihn annimmt, die nicht von ihrer eigenen naturgegebenen Untergebenheit ausgeht -, wird der Feminismus gezwungen, jede Interpretation als eine Ausprägung seiner selbst zu inhalieren."

Wie ist das nun mit dem Feminismus, frage ich mich. Gebrauchen wir den Begriff mittlerweile inflationär und schaden der Bewegung damit mehr, als dass wir ihr nutzen?

Auch meine Rolle in den sozialen Medien hinterfrage ich konstant und gehe erst mal auf Abstand bei Instagram.


Am Neunten Mai finde ich eine weggeworfene Einkaufsliste und stelle mir vor, wie eine Helga ihrem Bodo einen Zettel schreibt. Er soll dreimal Sprühsahne und zweimal Zigaretten mitbringen. Vor meinem inneren Auge steigt eine triste Gartenparty mit Erdbeertorte und dunkelweißen Plastikstühlen. Die Kippen werden in leere alte Gurkengläser gedrückt, die schon bis zur Hälfte mit Zigarettenschmutz gefüllt sind. Jede Seite des bewachstuchten Tisches hat ihr eigenes Gurkenglas. Im Radio läuft leise Hitradio Antenne Irgendwas und das Radeberger kommt schon zu warm aus dem altersschwachen Kühlschrank...


Der Zwölfte Mai ist ME/CFS-Tag und ich helfe meiner lieben Freundin Maike Lindemann, die nach einer Covid-Infektion an ME/CFS erkrankt ist, in den sozialen Medien sichtbarer zu werden und einen lange geplanten und hart erarbeiteten Aufruf zu veröffentlichen. Die Arbeit geht mir sehr zu Herzen und ich bewundere Maike und alle anderen Betroffenen, für die Unerschütterlichkeit, mit der sie unter Aufbringung aller Kraftreserven, für die eigenen Belange einstehen und kämpfen.


Am darauffolgenden Wochenende gebe ich meinen monatlichen Wochenend-Workshop, das Schreib-Retreat. Es ist der erste Schlappen-Tag des Jahres, also krame ich beherzt in den unteren Regalen meines Schuhschranks und finde am Ende meine geliebten Birkenstocks.

Wir schreiben draußen in der Sonne, zwischen Walnussbäumen und Amselgezeter. Die Sonne wirft Lichtreflexe auf unsere Notizbücher und wir schreiben an Fotogeschichten, kleinen Frühlingsminiaturen und autofiktiven Erinnerungsmomenten.



Zum Fünfzigsten Todestag von Brigitte Reimann bin ich zu einer Lesung in der MONAliesA. Leipziger Autorinnen lesen aus Reimanns Tagebüchern und Romanen und ich erstehe eine überarbeitete Neuauflage von Franziska Linkerhand, ohne die DDR-Zensur.



Im Garten finde ich Spinat, romantische Abendbeleuchtung und die Larven des Rosenkäfers, die ich behutsam aus den Beeten in meinen Komposthaufen umsiedele. Eine tote Maus und viele Gespinste im Apfelbaum später, ernte ich den ersten Kopfsalat der Saison.



Tina Turner stirbt und M. und ich sitzen abends beim Feuer und stoßen zu "What's Love Got To Do With It" auf die einzigartige Lebensgeschichte dieser Powerfrau und die großartigste Frisur aus dem Jahr 1984 an.


Der Mai endet mit einer großen Räumaktion, die ich Frühjahrsputz nenne, obwohl es schon fast Sommer ist. Ich sortiere ungenutzte Dinge aus, schreibe Kleinanzeigen und trenne mich von Unnötigem. Das Sortieren im Außen hilft mir immer auch mein Innen klarer zu sehen.


M. fährt auf Tour und spielt in den kommenden Wochen Gitarre für "Bob Wayne & The Outlaw Carnies" in Spanien, Schweden und Norwegen, während ich in der Hängematte liege, lese und endlich den Sommer in Empfang nehme.





Comentários


bottom of page