top of page

Der poetische Monatsrückblick - April 2023

Eine literarische Rückschau auf all die April-Dinge, die ich erlebt, gelernt und geliebt habe. Meinen poetischen Monatsrückblick gibt es immer am letzten Tag eines jeden Monats.



Anfang April bin ich für drei Tage in der Stadtbibliothek in Delitzsch zu Gast. Ich gebe meinen Poetry Slam-Workshop "Wörterschlacht" und arbeite zusammen mit Schüler:innen der Erasmus-Schmidt Gesamtschule an wilden Geschichten über Freiheit, Herzschmerz und Fußball, aber auch an Texten über Depressionen, Ängste und sexualisierte Gewalt.

Es ist ein intensiver Austausch und ich bin beeindruckt von der Klarheit, mit der die Kids ihre Themen bearbeiten. Der abschließende Mini-Poetry-Slam ist ein voller Erfolg: die Anspannung fällt von uns ab und Leichtigkeit macht sich breit. Ich bin stolz auf alle, die den Mut gefunden haben, ihre Texte vorzutragen und nehme ganz viel Energie aus Delitzsch mit nach Leipzig.



Die folgenden Tage sind faul und vergehen langsam.

M. und ich sind Eis essen, gammeln auf dem Sofa und buddeln im Garten. Dann verabschiedet M. sich in den Urlaub und ich genieße die Stille der Wohnung und eine kraftvolle Ruhe, die ich in mir wahrnehme.


Über Ostern perfektioniere ich meine Slow-Morning-Routine: ich lese Zeitung oder Bücher, während ich Tee trinke und ein köstliches Frühstück genieße. Und auf einmal muss ich an meine damalige Mitbewohnerin S. denken, von der ich die Angewohnheit des Lesens am Morgen, übernommen habe. Ich fand sie oft, den Vormittag über mit einem Kaffee und einem Buch in ihrem Podestbett, den Rücken an die Seite des Fenstersturzes gelehnt, lesend.

Wenn ich meine Haare zu Zöpfen geflochten hatte, nannte sie das immer meine "Wagner-Frisur". Wir haben zusammen gegen die Entmietungsstrategien unserer damaligen Hausverwaltung gekämpft und sie stand bei fast jedem Konzert, dass ich damals im Kiez gegeben habe, in der ersten Reihe. S. kennt alle heimischen Insekten und hält begeisterte Vorträge über Magerwiesen und Feldwespennester. Ich denke oft an sie, wenn ich jetzt in meinem Garten sitze, den sie an allen Ecken bemängeln würde, weil ich viel zu wenig Habitat für all die bedürftigen Wildinsekten eingeplant habe.



Ich kaufe mir selbst Blumen und drapiere die rosa Pracht in einem alten Weckglas, auf meinem Küchentisch. Ein Treffen mit Freunden wird unerwartet emotional, als wir uns gegenseitig das erste Mal verletzlich zeigen und weinen müssen, als wir über die fortgeschrittene Demenz der Mutter einer Freundin sprechen. Wir sind beide Anfang 40 und unsere Eltern altern - ob wir es wollen oder nicht. Wir sind überfordert mit der Umkehr der Verantwortlichkeiten und trösten und stützen uns und sind füreinander da.


Ab dem Zehnten April fühle ich mich elend und krank. Ich liege im Bett, bekomme Rückenschmerzen vom vielen Liegen und kann doch nicht aufstehen. Ein paar Tage fesselt mich ein Infekt an Sofa und Bett und ich bin verzweifelt, weil mein geplanter Spaziergang zum Magnolienbaum im Park, und die Aussicht auf die Ernte einiger Blüten, dieses Frühjahr wohl ausfallen muss.


Am Fünfzehnten kommt M. aus dem Urlaub zurück und eine große Vermissung weicht noch größerer Freude. Es folgen Tage der Ruhe und Erholung, der Regenspaziergänge und Ofenabende, denn der Frühling lässt noch immer auf sich warten.

In der blauen Stunde schreiben wir KI-indizierte Haiku über melancholische Katzen.

Den gesamten Rest des Monats schreibe ich kein Tagebuch.


Der April zieht sich, ich verlerne das Kreativ sein und warte angespannt auf den Frühling.

Workshops und Fortbildungen füllen meine Tage, ich lerne viel und taste mich auf dem weiten Feld der Medienpädagogik voran. Vorträge über Mobbing in der On- und Offlinewelt, über Hass und rechte Hetze im Netz triggern Themen aus meiner Jugend an und erinnern mich an schwere Schultage und Ausgrenzung.



Aus dieser Schwere holt mich am Zwanzigsten April ein langersehnter Konzertmoment heraus. M. schenkt mir Karten für Kitty, Daisy & Lewis und wir tanzen und sind unbeschwert. Im kalten Abendlicht spazieren wir nach Hause.

Das Wetter am nächsten Tag lässt hoffen und so backe ich einen Käsekuchen und wir treffen Freunde zum Kaffee im Garten. Am Abend besuchen wir das Gewandhaus, um die tragische 6. Sinfonie in a-Moll von Gustav Mahler zu erleben. Der Umfang des Orchesters ist außergewöhnlich und der dritte Satz fährt mir mitten ins Mark: Ich fühle den Helden der Geschichte und die Schicksalsschläge, die ihn fällen. Prophetisch klingt es in die Nacht und ich erkenne: Musik weiß immer mehr als der Komponist. Ich staune über die Flüchtigkeit der Töne und vibriere in dem Gefühl, das die Paukenschläge in mir hinterlassen.



Ende April ist es Zeit für einen nächsten Brief. Ich fange an zu schreiben und finde unverhofft zu meiner Kreativität zurück.

Ich räume auf im Außen und merke, wie mein Innerstes zur Ruhe kommt.

Gartenarbeiten stehen an. Ich betäube mich mit Antihistaminika, damit der anstehende Subbotnik nicht durch die schiere Übermacht der Birkenpollen, für mich zu einem Migränedesaster wird.

In dieser Textminiatur bearbeite ich meine ambivalenten Gedanken zu Frühling, Pollen und einer durch Fensterglas gefilterten Einsamkeit.


Und dann kommt der Mai.






Comments


bottom of page